Eine 65-jährige Frau wurde am 26. November in Morbio Inferiore TI getötet. Es ist der 17. Feminizid in der Schweiz im 2024.
Nur einen Tag nach dem internationalen Kampftag gegen patriarchale Gewalt wurde in Morbio Inferiore eine Frau auf tragische Weise durch patriarchale Gewalt aus dem Leben gerissen. Unsere Gedanken sind bei ihr und bei all den Menschen, die sie geliebt haben, die diesen Verlust nun verarbeiten müssen. Die Medien berichten, dass die Nachbarschaft in Morbio Inferiore schockiert ist, da die Tat in einer „ruhigen und normalen“ Gegend geschah. Doch genau darin liegt das Problem: patriarchale Gewalt findet überall statt, unabhängig von sozialen, wirtschaftlichen oder geografischen Kontexten. Sie ist tief in unsere Gesellschaft eingeschrieben und wird durch ihre Allgegenwärtigkeit oft unsichtbar gemacht oder gar als „Einzelfall“ abgetan. Diese Tat erinnert uns schmerzhaft daran, dass das Patriarchat niemals ruht. Hinter jeder Statistik und jeder Nachricht über einen Feminizid steht ein Mensch, dessen Leben durch Gewalt zerstört wurde – ein Leben, das wir niemals vergessen dürfen. Doch während wir um die Getötete trauern, dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wir müssen erkennen, dass keine Gegend, kein Zuhause und kein Umfeld von patriarchaler Gewalt automatisch verschont bleibt. Solange wir diese Strukturen nicht aufbrechen, bleibt die Gewalt nicht die Ausnahme, sondern ein normalisiertes Element unserer Gesellschaft.
Gemeinsam können wir eine Gesellschaft schaffen, in der patriarchale Gewalt keinen Platz mehr hat. Jede*r von uns kann ein Teil des Widerstands sein.
Lasst uns weiterkämpfen, uns organisieren und solidarisch bleiben.
Bis jetzt wurden im Jahr 2024 in der Schweiz 18 Frauen ermordet. 18 von denen wir wissen. Feminizide werden von den bürgerlichen Medien und Justiz verharmlost und legitimiert, obwohl alle zwei Wochen eine Frau Opfer eines Feminizids wird.
Unter Feminizid verstehen wir die Morde an Frauen und Mädchen aus frauenfeindlichen Motiven. Das betrifft auch feminisierte Menschen, also Menschen, die gesellschaftlich in die Kategorie Frau gezwungen werden, obwohl sie sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren, etwa als nicht-binär oder trans.
Weltweit werden Flinta-Personen von Faschisten gehetzt, vom Kapitalismus ausgebeutet und vom Rassismus und Patriarchat ermordet. Sie wollen die bestehenden Machtverhältnisse schützen und ihre Privilegien weiter ausbauen.
Kollektiv organisieren wir uns gegen diese mehrfache patriarchale Gewalt und solidarisieren uns mit feministischen Kämpfen weltweit. Wir benennen diese lebensgefährlichen Ungerechtigkeiten und kämpfen kollektiv für eine Welt ohne toxische Männlichkeit, sexualisierte Gewalt und Feminizide.
Am 25. November werden wir auf dem Ni-Una-Menos-Platz (ehem. Helvetiaplatz) um 19:00 den Ermordeten, den Überlebenden und den Hinterbliebenen gedenken.
Die Nacht wird lang sein ✊❤️🔥.
Kollektive Wut geballt gegen patriarchale Gewalt! Wir wollen uns lebend! Ni una menos!
Dies ist die Zusammenfassung eines Podcast, in dem Chowra Makaremi, eine französische Wissenschaftlerin mit iranischen Wurzeln, erklärt, wie der Aufstand der Jin JiyanAzadî Bewegung die Säulen des iranischen Regimes ins Wanken gebracht hat. Sie beleuchtet insbesondere, wie Solidarität und Empathie das Gefühl der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft ersetzt haben. Ihre Analyse über die Verankerung des Protests in der Macht der Trauer und wie sich die Forderung nach Gerechtigkeit für die Ermordeten von den direkt betroffenen Familien auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet hat, gibt uns Denkanstösse für unsere Kampagne gegen Feminizide. Rüttelt der Kampf gegen
Feminizide an den Grundpfeilern der Schweizer Regierung?
Was führt dazu, dass jedes Jahr Dutzende von Feminiziden in Gleichgültigkeit begangen werden können?
Wie kann man die Hoffnung als Kampfpraxis kultivieren?
All dies sind Fragen, die uns Chowra Makaremi anregt, zum darüber nachzudenken.
Am 16. September 2022 stirbt die kurdisch iranische Studentin Mahsa Jina Amini in Polizeigewahrsam, nachdem sie von der Polizei festgenommen wurde, weil sie ihren Schleier falsch getragen hatte. Am selben Tag geht das Land in Flammen auf und während der Demonstrationen legen mehrere Frauen ihren Schleier ab und marschieren unter anderem mit dem Ruf “Frau, Leben, Freiheit”, der sich an dem kurdischen feministischen Slogan “Jin Jiyan Azadî” orientiert, durch die Strassen. Die Demonstrationen erstrecken sich über das ganze Land und zeigen eine seltene Solidarität zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen sowie zwischen unterschiedlichen Geschlechtern. Diese Bewegung, deren Ausmass in der Geschichte des Mullah-Regimes beispiellos ist, wirft eine alte Frage der politischen Philosophie auf, nämlich die nach der Möglichkeit von Aufstand, Ungehorsam und Revolution.
Chowra Makaremi ist Anthropologin, Forscherin am CNRS und Spezialistin für staatliche Gewalt. In ihrem Buch “Femme Vie Liberté” erzählt sie die Chronik dieses Aufstandes aus der Distanz. Auch wenn die grossen Demonstrationen schliesslich zum Erliegen kamen und die Regierung standhielt, handelte es sich ihrer Meinung nach um einen revolutionären Aufstand, der mehrere Pfeiler der seit der Revolution von 1979 bestehenden Islamischen Republik frontal angriff.
Wann hört eine Gesellschaft auf, daran zu glauben, dass sich durch Wahlen etwas ändern lässt?
Was führt dazu, dass ein Regime zusammenbricht oder eben nicht
Was macht eine Revolution aus?
Der Aufstand, der 2022 im Iran begann, hat revolutionäre Ausmasse, weil er alle Bevölkerungsschichten vereint, überall im Land gleichzeitig stattfindet und einen Sturz des Regimes fordert. Die Bewegung Frau Leben Freiheit hat die roten Linien des Regimes überschritten, indem sie bestimmte Themen in den Mittelpunkt der Debatte stellte, über die nicht gesprochen und über die nicht verhandelt werden durfte. Diese roten Linien wurden von einem Terrorregime gezogen, das Gewalt normalisiert und sie so verleugnet. Die Frage der Kopftuchpflicht ist eine dieser roten Linien, die lange Zeit Gegenstand von Verhandlungsversuchen war, ohne jemals in Frage gestellt zu werden. In den Jahren 2000-2010 kämpften iranische Feminist*innen, die bereits äusserst aktiv und sehr gut organisiert waren, für absolut wichtige Reformen wie Bürgerrechte, Erbschaftsfragen oder das Recht, Sport zu treiben. Ihre Strategie bestand darin, zu verhandeln, was verhandelt werden konnte, ohne die Grundlagen des Regimes in Frage zu stellen.
Wenn Frauen im Jahr 2022 auf die Strasse gehen, ihren Schleier ablegen und ihn verbrennen, verwandeln sie die Grenzen des öffentlichen Raums in Barrikaden. Dieser Aufstand ist revolutionär, weil er die Säulen des Regimes ins Wanken bringt, mit denen es seine Hegemonie aufrechterhalten und eine Macht sichern kann, die nicht nur durch die Kraft der Kalaschnikow funktioniert, sondern auch durch einen Zusammenhalt und Zustimmung, durch den der Status quo von der Zivilgesellschaft bis zu einem gewissen Grad akzeptiert wird.
Die drei Säulen, die 2022 zusammenbrachen, sind das Affektregime, die Werte und die Modi der kollektiven Identifikation.
Die kollektive iranische Identität wurde um eine Gründungserzählung herum aufgebaut, in der das Mullah-Regime als einziger legitimer Erbe der Revolution von 1979 dargestellt wird, wobei die Märtyrer der Revolution von 1979 und des Irakkriegs gefeiert wurden. Doch im Jahr 2022 stimmte die iranische Identität plötzlich nicht mehr mit der Identität der Islamischen Republik überein. Iranische Fans pfiffen ihre Nationalmannschaft während der Weltmeisterschaft in Katar im Fussballstadion aus. Slogans wie “Ich werde kämpfen, ich werde sterben, ich werde den Iran befreien” wurden skandiert. Der Iran wurde plötzlich als von einer Clique der herrschenden Eliten besetzt wahrgenommen und es kam zu einer Trennung zwischen der wahrgenommenen Realität im Iran und der Islamischen Republik. Diese Trennung ist jedoch relativ neu.
Der Aufstand von 2022 führt auch zu einer Umkehrung der Werte, in dem Mut statt Vorsicht gelebt wird. Es kursieren Videos, in denen junge Mädchen sich gegen Milizionäre wehren, die sie auffordern, sich erneut zu verhüllen. Diese Formen von Widerstand auf der Strasse wären vor einigen Jahren noch als Wahnsinn oder Hysterie wahrgenommen worden. Oder wären vielleicht als Formen des radikalen Extremismus gesehen worden.
Diese Veränderung des Wertesystems ermöglicht eine Veränderung des Affektregimes, das auf Gleichgültigkeit beruhte. Diese Gleichgültigkeit, die mit dem Individualismus und der Atomisierung der Gesellschaft einherging, verhinderte, dass Empathie für andere empfunden wurde. Diese Gleichgültigkeit ist ein soziales Konstrukt – und ein Schlüsselelement des Regimes, um seine Hegemonie aufrechtzuerhalten. Es ist die gleiche Gleichgültigkeit, die dazu führt, dass man an Menschen, die bei Minusgraden auf der Strasse leben, vorbeigehen und diesen Zustand akzeptieren kann. Es bedarf einer ganzen sozialen Ordnung, um solche Dinge zuzulassen. In ähnlicher Weise wurden im Iran die Familien von politischen Gefangenen in einen Freizeitpark namens Luna Parc gerufen, um Nachrichten von ihren Angehörigen zu erhalten. Ich habe das erlebt, als ich klein war und meine Mutter im Evin-Gefängnis inhaftiert war. In diesem extrem gewalttätigen Raum, in dem Mütter zusammenbrachen, weil ihnen die Hinrichtung ihrer Kinder angekündigt wurde, und von den Wärtern gewaltsam abtransportiert wurden, assen Menschen Eis und Zuckerwatte und amüsierten sich. Jahre später, wenn ich zurückblicke, denke ich, dass das völlig verrückt war. Um diese Gleichgültigkeit herzustellen, spielt die staatliche Gewalt eine grundlegende Rolle. Paradoxerweise führt die Tatsache, dass viele öffentliche Hinrichtungen mit einer öffentlichen Inszenierung stattfinden, dazu, dass man sich daran gewöhnt. Es wird zu etwas Alltäglichem, aber auch zu einem Spektakel, das der Bevölkerung zeigt, auf welchem Level sie sich befinden. Die Frage der Toleranzschwelle ist wichtig in einem Land wie dem Iran, wo die Todesstrafe nicht nur für den Verkauf von Drogen, sondern auch für den blossen Besitz von Drogen gilt. Und die Tatsache, dass viele junge Männer wegen Drogen hingerichtet werden, erhöht die Schwelle der Empfindlichkeit für Gewalt. Dadurch kann mehr politische Gewalt ausgeübt werden. Doch im Jahr 2022 gab es kein Rückzug in die Gleichgültigkeit, stattdessen bedeutete der Tod von Mahsa Jina Amini die Rückkehr von Empathie und Solidarität. Formen des Protests, die zuvor nur von Aktivist*innen und Familienangehörigen politischer Gefangener genutzt wurden (wie z.B. die Forderung nach Gerechtigkeit für die Toten) wurden auf die gesamte Zivilgesellschaft ausgeweitet. Der Protest gegen die Macht hat sich mit der Trauer verbunden sowie mit einer Art und Weise, sich äusserst solidarisch und empathisch zu zeigen. Die Emotionen angesichts der Ungerechtigkeit des Todes von Mahsa Jina Amini wirkten auf die Mobilisierung einer Bewegung, die das Land innerhalb weniger Tage in Brand setzte. Die Bevölkerung hörte auf, sich von den Familien der Hingerichteten abzuwenden und sich von ihnen zu distanzieren, wie meine Familie es in den 1980er Jahren am eigenen Leib erfahren hatte. Der Jin-Jiyan-Azadî-Aufstand forderte über 500 Todesopfer, aber trotz der Unterdrückung und Repression, trotz des Risikos, verhaftet, gefoltert und zum Tode verurteilt zu werden, protestierten die Iraner*innen weiter. Die wiedergewonnene Empathie ging über die Familien der Opfer hinaus und war die emotionale Triebfeder der Revolte.
Wenn man mich fragt, ob der Aufstand eine Chance hat, die Macht zu stürzen, denke ich, dass wir uns im Herzen eines politischen und philosophischen Missverständnisses befinden.
Man braucht keine guten Gründe, um optimistisch zu sein, denn die Frage des politischen Mutes artikuliert sich in der Hoffnung. Wenn man auf den Bus rennt, überlegt man nicht die ganze Zeit, ob man ihn erreicht oder nicht, sondern man rennt, weil man ihn erreichen will. Auch als das ukrainische Volk einer totalen Invasion Russlands gegenüberstand, bewerteten sie nicht ihre Erfolgschancen, da es darum ging, sich in einen Überlebenswiderstand zu begeben. Das Problem ist, dass wir hier (in Westeuropa) die Praxis der Hoffnung als eine Praxis des Kampfes, eine kollektive Praxis, verloren haben. Mut ist etwas, mit dem man in Resonanz geht – etwas, dem man ein Echo gibt, und nicht etwas, das man von aussen beklatscht, indem man seine Erfolgschancen bewertet. Wir stehen hier vor enormen politischen und sozialen Herausforderungen und sind nicht kollektiv gewappnet, um sie zu bewältigen, da wir jede Praxis der Hoffnung und jede politische Vorstellung davon, wozu Mut dient, verloren haben.
Wenn wir anfangen, den Iraner*innen zu applaudieren, sind wir verloren. Es geht im Gegenteil darum, von ihnen zu lernen, um einschätzen zu können, wie revolutionäre Aufstände immer wieder die Möglichkeit eröffnen, scheinbar unumstössliche Ordnungen zu stürzen. Denn auf diese Weise wird Hegemonie aufgebaut, indem der Eindruck erweckt wird, dass die Fiktion der Macht die Realität der Macht ist. Das Regime im Iran stand auf ideologischen Säulen, die ihm nicht nur den Gehorsam, sondern auch die Zustimmung des Volkes sicherten, indem es eine Politik der Gewalt und der Leugnung dieser Gewalt kombinierte, die Geschichte umschrieb und die Fiktion einer möglichen Reform vorgaukelte. Der Aufstand von 2022 hat diese Säulen aufgelöst und auch wenn die Demonstrationen selten geworden sind, hat die Islamische Republik endgültig ihre Legitimität verloren und hält sich nur noch mit Gewalt aufrecht. Daher ist sie früher oder später zum Fallen verurteilt.
Und ihr Buch: “Frau! Leben! Freiheit!”, das die vielfältigen Ursprünge des Jin-Jiyan-Azadî-Aufstandes identifiziert und versucht, den revolutionären Umschwung dieser Bewegung zu erfassen: