Unter Feminizid verstehen wir einen Mord, der mit dem Geschlecht der getöteten Person zusammenhängt. Das umfasst alle weiblich gelesenen Personen: Sie wurden getötet, weil sie als Frau angesehen wurden, egal ob sie sich selber als solche empfanden oder bezeichneten. In diesem Sinne kann ein Feminizid auch eine trans, agender oder nicht-binäre Person betreffen. Wir verwenden das Wort Feminizid, um diese Form der Gewalt, die spezifische Eigenschaften und Hintergründe hat, von anderen Morden abzugrenzen. Feminizide beruhen auf patriarchalen Vorstellungen, gemäss denen cis Männer* Anspruch darauf haben, weibliche und feminisierte (als weiblich gesehene oder dargestellte) Körper zu besitzen und zu kontrollieren. Das drückt sich auf verschiedene Weise aus: im Ehe- und Erbrecht, durch wirtschaftliche Ausbeutung, soziale oder finanzielle Kontrolle, Begrenzung der Bewegungsfreiheit sowie physische und psychische Gewalt – um nur einige Beispiele zu nennen. Bei einem Feminizid übt der Täter die extremstmögliche Art dieses Besitzanspruch aus – er nimmt ein Leben, löscht eine Existenz aus.
Feminizide sind die Spitze der Gewalt. Ihnen gehen eine ganze Palette von Gewalttaten voraus, die von der Gesellschaft banalisiert werden und die tödliche Gewalt ermöglichen wie zum Beispiel sexistischer Humor, männliche Dominanz in der Sprache oder die alltägliche Abwertung von Frauen und queeren Menschen. Deshalb sprechen wir nicht nur über Feminizide, sondern immer auch über patriarchale Gewalt im Allgemeinen.
Weshalb wir uns gegen Ausdrücke wie “Beziehungstat” und “Familiendrama” wehren
Patriarchale Gewalt und Feminizide finden am häufigsten im häuslichen und familiären Kontext sowie in Bekanntenkreisen statt. Deshalb werden sie oft als Privat- oder Familienangelegenheit behandelt. Dies führt dazu, dass Feminizide unsichtbar gemacht, verharmlost oder als Einzeltaten dargestellt werden, womit die strukturellen Zusammenhänge verschleiert werden: die Vorstellungen, welche patriarchale Gewalt möglich machen.
Dass sich Täter und ermordete Person kennen, ist denn auch keine Voraussetzung. Ebenso gibt es Fälle von patriarchaler Gewalt und Feminiziden, bei denen sich die betroffene Personen und Täter nicht kennen. Beispiele dafür sind frauen- und queerfeindliche Belästigungen auf der Strasse oder Morde an Sexarbeitenden.
Um darauf aufmerksam zu machen, dass hinter jedem Mord an einer Frau oder weiblich gelesenen Person ein ganzes System steht und dass alle diese Taten zusammenhängen, hat die Anthropologin Marcela Lagarde in den 1990-erJahren den Begriff Feminizid eingeführt. Die Silbe “ni” betont, dass es sich nie um Einzelfälle handelt, sondern um ein Massenverbrechen. Sie fügt damit der Definition dieser Taten eine zweite Ebene hinzu, die die Verantwortung des Staates benennt: “Wenn der Staat durch seine patriarchale Dimension und durch sein Festhalten an der Erhaltung dieser Ordnung ein struktureller Teil des Problems ist, ist Feminizid ein Staatsverbrechen.”
Weshalb wir uns im Kampf gegen Feminizide nicht auf die Polizei, die Justiz und den Staat verlassen können
Die Polizei ist der bewaffnete Arm des Staates. Genau wie der Staat ist sie das Produkt davon, wie unsere Gesellschaft organisiert ist: Unsere Gesellschaftsstrukturen beruhen darauf, dass nicht alle Menschen gleich viel Macht haben und dass gewisse Menschen Macht über andere ausüben (können). Die Polizei dient dazu, diese kapitalistische, patriarchale und weisse Ordnung zu wahren. Würde sie sich dagegen wehren, würde sie sich letztlich selbst abschaffen. Sie schützt also immer die Mächtigen und das Eigentum und ist eine zutiefst patriarchale Institution.
Das zeigt sich auch im Umgang mit patriarchaler Gewalt. Häufig gibt die Polizei den Betroffenen die Schuld für die erfahrene Gewalt, anstatt das Handeln der Täter als Ursache für die Gewalt zu benennen (Täter-Opfer-Umkehr). So schützt sie gewaltausübende Personen (bei denen es sich häufig um Menschen mit mehr gesellschaftlicher Macht als die Person, welche die Gewalt erfährt, handelt) anstatt für die Sicherheit von Gewaltbetroffenen zu sorgen. Gerade queere Menschen, von Rassismus betroffene Menschen, Sexarbeiter*innen, Obdachlose und andere stigmatisierte Menschen (sprich: Menschen, die in der Hierarchie unserer Gesellschaft weit unten stehen) schützt die Polizei nicht, sondern übt ihnen gegenüber häufig Gewalt und Repression aus.
Zudem zeigt sich auch, dass viele der in der Schweiz durch Feminizid getöteten Menschen in der Zeit vor ihrer Ermordung bei der Polizei Hilfe gesucht haben – dennoch wurden die Feminizide nicht verhindert. Wir können uns daher in unserem Kampf gegen Feminizide nicht auf die Polizei stützen, sondern müssen solidarische, community-basierte und alternative Formen von Sicherheitsnetzen aufbauen, um uns zu schützen und zu verteidigen. Patriarchale Institutionen schützen uns nicht – es braucht queerfeministische Selbstverteidigung im Kampf gegen patriarchale Gewalt.
Weshalb es wichtig ist Feminizide als solche zu benennen
Die Bewegung gegen Feminizide hat ihren Ursprung in Lateinamerika. 2015 gewann die Bewegung an Stärke, als sich über 250 000 Menschen in Buenos Aires zur ersten Demonstration von Ni Una Menos (übersetzt: Keine einzige mehr) versammelten. Davon ausgehend hat sich eine transnationale (queer)feministische Bewegung entwickelt, die gegen Feminizide und patriarchale Gewalt kämpft. Wenn wir hier in der Schweiz das Wort Feminizid verwenden, verweisen wir auch darauf, dass diese Gewalt überall auf der Welt System hat – und überall auf der Welt dagegen gekämpft wird.
Wie oben ausgeführt, beruhen Feminizide auf dem Anspruch, über weibliche und weiblich gelesene Körper verfügen zu dürfen. Jeder Feminizid stärkt symbolisch diese cis-männliche Macht, indem allen anderen Personen aufgezeigt wird, wie weit sie reicht: bis zur Möglichkeit über Leben und Tod derjenigen zu entscheiden, die dieser Macht unterstellt sind. Das patriarchale System normalisiert Feminizide und versucht Widerstand gegen Feminizide zu entkräften. Werden Feminizide als strukturelle Gewalt benannt, so wird die gesellschaftlich akzeptierte Kontrolle über weiblich gelesene Körper sichtbar. Jedes Mal, wenn wir einen Feminizid beim Namen nennen, wenn wir uns gegen die Ermordung unserer Geschwister wehren, dann weigern wir uns, diese Macht zu akzeptieren und zeigen, dass es möglich ist, sich gegen die Gewalt dieses Systems aufzulehnen.
Wenn wir Feminizide als solche benennen, dann geht es daher nicht darum, einen Tod für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Das Hauptziel ist es, patriarchale Gewalt zu beenden und die Ermordung weiterer Geschwister zu verhindern – daher kommt auch die Parole “Keine einzige* mehr/Ni una menos”. Es geht darum, auf die Systematik aufmerksam zu machen, die hinter diesen Morden steht, und das patriarchale System gemeinsam zu bekämpfen. Feminizide sind an sich hoch politisch – und wir wollen diese Tatsache laut und deutlich aussprechen. Gleichzeitig wollen wir nicht vergessen, dass hinter jedem Feminizid ein trauerndes Umfeld und ein Mensch mit einer eigenen Lebensgeschichte steht. Wir wollen uns an unsere ermordeten Geschwister erinnern und ihre Stimmen weitertragen.
Wir müssen patriarchale Strukturen und Gewalt als solche erkennen und sie benennen, um gegen sie anzukämpfen. Lasst uns gemeinsam gegen patriarchale Gewalt und für eine herrschaftsfreie Welt für alle kämpfen. Denn darin liegt unsere Stärke und unser Widerstand: im Aufbau einer basisdemokratischen, inklusiven und toleranten Geschwisterschaft und queerfeministischen Solidarität.
Gemeinsam bringen wir das Patriarchat zum Einsturz!
* cis Männer sind Männer, deren Genderidentität mit dem Gender übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde.