Im November des letzten Jahres hat der Berner Regierungsrat die kantonale Opferhilfestrategie 2023-2033 verabschiedet. Bereits in der Vernehmlassung wurde das Strategiepapier von Fachstellen massiv bemängelt. Auch wir kritisieren die Strategie aus folgenden Gründen:
1. Rassistische und klassistische Massnahmen
Die vorgeschlagenen Massnahmen sind zu wenig auf die Bedürfnisse von Betroffenen ausgerichtet und legen stattdessen einen Fokus auf migrantische Täter*innen. Dadurch wird die Opferhilfestrategie für eine rassistische Migrations- und Asylpolitik missbraucht ohne Gewaltbetroffene zu stärken. Auch die vorgeschlagene Kürzung der Sozialhilfe als repressives Mittel gegen Täter*innen ist keine wirksame Strategie gegen patriarchale Gewalt, sondern eine Ungleichbehandlung von Täter*innen je nach Klassenhintergrund. Zudem bestraft je nach dem die Kürzung der Sozialhilfe nicht nur den*die Täter*in sondern auch die von der Gewalt betroffenen Person, da sie möglicherweise in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem*der Täter*in steht.
2. Binäre Logik
Die gesamte Opferhilfestrategie ist ausschliesslich auf Frauen und Mädchen ausgerichtet. Viele von patriarchaler Gewalt betroffene Personen werden dadurch unsichtbar gemacht und von Schutzangeboten ausgeschlossen. Eine Opferhilfestrategie sollte alle TINFA-Personen einschliessen (TINFA= trans, inter nonbinary, female, agender). Gerade trans Menschen und nonbinäre Menschen erfahren in der patriarchalen und heteronormativen Gesellschaft, in der wir leben, besonders viel Diskriminierung und Gewalt – die meisten «Schutzorte» sind ihnen jedoch nicht zugänglich.
3. Abbau von Unterstützungsstrukturen
Eine Opferhilfestrategie sollte sich an den Betroffenen ausrichten: die Angebote sollten bedarfsorientiert und niederschwellig sein. Mit dem vorgesehenen Abbau der bestehenden Strukturen (z.B. Schliessung des Standorts Berner Oberland, Verunmöglichung einer Erröffnung eines Mädchenhauses) sowie der fehlenden Sprechung von Geldern wird der niederschwellige Zugang massiv eingeschränkt. Dies während gleichzeitig die Anzahl von Betroffenen in den letzten Jahren ständig angestiegen ist.
4. Täter-Opfer Umkehr
In der Strategie ist vorgesehen, dass Gewaltopfer mit geringen deutschen Sprachkenntnissen dazu verpflichtet werden können sich «sprachliche Kompetenzen» anzueignen. Dies ist eine klassische Täter*innen-Opfer-Umkehr und diskriminierend. Die wichtigsten Kernthemen in der Opferberatung – die Beratung von traumatisierten Menschen und die damit nötige Zeit und Sorgfalt sowie die Sicherheit der Betroffenen – sind in der Strategie hingegen ausgeblendet.
Diese spezifische Kritik richtet sich an die Opferhilfestrategie 2023-2033. Wir finden es wichtig, dass es im Jetzt funktionierende, zugängliche und möglichst diskriminierungsfreie Hilfsangebote für Betroffene patriarchaler Gewalt gibt. Darüber hinaus halten wir aber eine grundlegende Kritik am bürgerlich-kapitalistischen Staat und revolutionäre Perspektiven für notwendig. Denn: Patriarchale Gewalt basiert auf patriarchalen Strukturen und dazu gehören auch staatliche und institutionelle Dimensionen. Der Staat und seine Institutionen wie Polizei und Justizsystem werden nie für alle Menschen Sicherheit vor patriarchaler und rassistischer Gewalt bieten und erst Recht nicht zum Ende von patriarchaler Gewalt beitragen.
Anstatt uns also auf Politiker*innen, Polizei, Richter*innen und andere Kompliz*innen des Patriarchats zu verlassen, müssen wir eigene gemeinschaftsbasierte Lösungen und Gesellschaftsentwürfe erarbeiten und erkämpfen, die auf gegenseitiger Sorge, Unterstützung und Solidarität basieren.